Von Arts and Crafts über De Stijl bis zum Bauhaus

Was wäre das Bauhaus ohne seinen Gründervater Walter Gropius? Unvorstellbar. Aber was wäre das Bauhaus ohne seine Vorgeschichte? Denn ja, obwohl Gropius Anfänge, Wurzeln oder Inspirationsquellen unerwähnt ließ, entsprang das Bauhaus nicht einem genialen Geistesblitz, sondern folgte einer Entwicklungsgeschichte, die sich erzählen lässt. Eine gesellschaftshistorische wie gestalterische Entwicklung. Strömungen, die das Bauhaus erst möglich machten, und Theorien, auf deren Basis diese bis heute einflussnehmende Haltung der Gestaltung fußt.

Doch wo nahm die Entwicklung ihren Anfang? Blicken wir in die Vorgeschichte des Bauhauses, schauen wir zwei Jahrhunderte zurück. Genau genommen in die 1780er-Jahre. Gesellschaftlich ein epochaler Umbruch. Doch als die industrielle Revolution ihren Siegeszug antrat, waren nicht alle begeistert. Sahen die einen im Übergang von der agrarischen Produktionsweise zur industriellen eine neue Ära der Menschheit mit unschätzbaren Chancen für Gesellschaft und Wirtschaft, warnten die anderen vor kulturellen Verlusten und Gefahren. Kunsthistoriker wie John Ruskin und Gottfried Semper setzten sich mit den rasanten Veränderungen ihrer Zeit auseinander, verteidigten stellvertretend für viele innovativen Fortschrittsglauben und konservativ-romantische Werterhaltung, Karl Marx und Friedrich Engels sahen statt technologischem und ökonomischem Fortschritt die Verelendung des Proletariats. Ungeachtet des kontrovers geführten Diskurses eröffnete 1851 die Weltausstellung in London ihre Tore. Mehr als 100.000 Exponate präsentierten den „Entwicklungsstand der gesamten Menschheit“, zeigten die Vielfalt der Auseinandersetzung mit Industriedesign sowie aktuelle Produktionsformen.

Rund sechs Millionen Besucher sahen Unvergessenes wie Joseph Paxtons Kristallpalast. Semper verglich diese überbordende Vielfalt, der in der Ausstellung dargebotenen Industrieprodukte mit einer „babylonische Sprachverwirrung“. Bei aller Skepsis und Ablehnung, die gezeigten Werkstücke aus der ganzen Welt brachten europäische Designer auf neue Gedanken. Der Brite Edward William Godwin gehörte zu den aufregendsten Gestaltern dieser Zeit, seine Werke waren modern und aufgrund des Verzichts auf historische Bezüge zeitlos.

Der Japonismus zählte zu den wichtigsten Einflüssen, passte er in seiner Reduktion und Schlichtheit doch hervorragend zu den sich entwickelnden maschinellen Möglichkeiten. Allgemein veränderten die neuen Produktionsformen das Design vieler Alltagsgegenstände. Denn die Industrialisierung ermöglichte den Zugriff auf bisher Einzigartiges, machte Unikate zur Massenware und fand in der Möglichkeit der unbegrenzten Reproduktion Eingang in die Regale der bürgerlichen Haushalte. Mit der maschinellen Herstellung und der damit einhergehenden Entkoppelung der handwerklichen Tätigkeit wuchs jedoch unweigerlich die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen. Statt des ornamentlos Industriegerechten wurden Natürlichkeit, Ehrlichkeit der Materialien und ihrer Verarbeitung, handwerkliche Qualität und Einfachheit die Maßstäbe für Arts and Crafts, eine Bewegung, die sich in England einen Namen machte und immer mehr Anhänger fand – auch über die Grenzen der Insel hinaus.

Kern dieser industriellen Gegenbewegung war die Aufhebung der Trennung von freier und angewandter Kunst. Inspiration fanden die Schaffenden im Form- und Farbschatz der Natur sowie im europäischen Mittelalter – und in der Kunst Japans.

Charles Rennie Mackintosh war wahrscheinlich der wichtigste Verfechter des Jugendstils in Großbritannien und einer der einflussreichsten schottischen Designer.
Der "Hill House Chair“: Ein ikonischer Stuhl, der den Stil des Meisters und seinen Hang zur Annahme der komplexesten produktiven Herausforderungen voll und ganz widerspiegelt.

Ähnliche Entwicklungen ließen nicht lange auf sich warten. Unweit Englands Hauptstadt entwickelte sich das schottische Glasgow zum führenden Zentrum für Architektur und Design. Die ansässige Schiffbauindustrie beförderte die Nachfrage nach Kunsthandwerk und Gestaltung. Frances Newbery gründete mit dem Ziel der Vermittlung traditioneller Handwerkstechniken die „Glasgow School of Art“. Einer der bekanntesten Vertreter des „Glasgow Style“ ist Charles Rennie Macintosh, der gemeinsam mit James Herbert McNair und den Schwestern Margaret und Francis MacDonald als „The Four“ die Verbindung von Architektur und Einrichtung propagierte und in „Tea Rooms“ umsetzte. Prägend für sie war die Arts-and-Crafts-Bewegung, deren Gedanke des „Gesamtkunstwerks“ ermöglichte das hierarchiefreie Sich-Bewegen zwischen dem Dasein als Künstler, Architekt und Gestalter. Zusammen mit der Veränderung der Formensprache durch Einflüsse aus dem Japonismus, dem Symbolismus der MacDonald-Schwestern, dem Wiener Jugendstil sowie genuin schottischer Formen charakterisierte er das Neue des „Glasgow Style“.

Glasgow und Wien? Tatsächlich reichten die Einflüsse der österreichischen Vertreter bis hoch in den Norden. Zum Beispiel Josef Hoffmann: Architekt, Mitbegründer der Wiener Secession, späterer Gründer der Wiener Werkstätten, Professor an der Wiener Kunstgewerbeschule und Vertreter des modernen, rationalen Designs. Die ästhetische Erziehung der Menschen über eine alle Alltagsgegenstände erfassende Gestaltung war sein Ziel – über das Schaffen eines Gesamtkunstwerkes also, wie eben jene englische Arts-and-Crafts-Bewegung es anstrebte. Statt der gebogenen Linie und dem Organischen folgte er jedoch sehr bald dem Geometrischen. Ganz wie der Schotte Charles Rennie Macintosh.

Zufall? Kaum. Denn auch in den Niederlanden regte sich Widerstand gegen das für die industrielle Herstellung optimiert Gestaltete. De Stijl nannte sich die Bewegung der Vertreter, die die Ästhetik des geometrischen Stils in die freie Kunst, den farbigen Geometrismus in Malerei übertrugen. Theo van Doesburg sprach vom „Willen zum Stil“, dem ultimativen Stil der Moderne und der umfassenden Gestaltung aller Bereiche, wie sie bereits Mackintosh und Hoffmann propagierten. „Räume als begehbare Kunstwerke“.

De Stijl war eine niederländische Gruppe von Malern, Architekten und Designern, die 1917 eine Künstlervereinigung gründeten und eine Zeitschrift desselben Namens herausgaben.
Gerrit Rietvelds bekannter „Rot-blauer Stuhl“ gilt als Musterbeispiel der avantgardistischen Kunstbewegung De Stijl.

Glasgow, Wien, Niederlande – überall entstand aus den neuen industriellen Möglichkeiten ein Diskurs um das Historische, das Naturgegebene, die Verbindung von Produktion und Design. Und Deutschland? Natürlich blieb auch hier die Moderne nicht unbeantwortet. Die Dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung in Dresden suchte 1906 nach dem Platz der Kunst im neuen System der Industrialisierung und dem mit ihr einhergehenden Kapitalismus. Die Chance: effiziente Produktionsweisen. Das „Maschinenmöbelprogramm“ sollte die künstlerische Gestaltung und den Anspruch hoher Qualität mit der maschinellen Herstellung auf der Basis einer sachlichen Formensprache zusammenbringen. Wobei der angewandten Kunst die zentrale Rolle zukommen sollte. Für das gehobene Bildungsbürgertum, die sich neu entwickelnde Mittelklasse der Konsum- gesellschaft, entstanden serielle und kostengünstige Möbelreihen in „edle(r) Einfachheit“. Frei kombinierbar, qualitativ hochwertig und – statt individuell – mit „gestalterische(r) Corporate Identity“.

Die DS 36 wurde zum Ende der Bauhaus-Epoche, etwa um 1930, in den Niederlanden erschaffen.
Die DS-28-Klavierleuchte ist eine auf die Grundformen reduzierte Tischleuchte aus dem Formenrepertoire der De-Stijl-Bewegung.
Aus dem Kreis der im schwedischen Funktionalismus parallel zum Bauhaus wirkenden Architekten kam der Entwurf der Tischleuchte SF 28.

Richard Riemerschmid, Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, und Bruno Paul gehörten mit ihren Maschinenmöbeln und dem Typenmöbelprogramm zu den erfolgreichsten Vertretern. Der 1907 von zwölf Künstlern und Architekten zusammen mit zwölf Firmen gegründete Deutsche Werkbund verstand sich als Plattform zur Förderung der Zusammenarbeit von Gestalter und Industrie. Mit dabei: AEG und Kaffee Hag. Angestrebt wurde eine „Systematik des Entwerfens im Kontext industrieller Produktion“. Aber wie? Durch Einschränkung der künstlerischen Freiheit? Gestalter als Dienstleister der Industrie? Ein Diskurs, der 1914 im Werkbundstreit seinen Höhepunkt fand. Und während Hermann Muthesius in seinen zehn Thesen die Loslösung der Kunst von der Gestaltung forderte, einen deutschen Stil etablieren wollte, wirtschaftlichen Erfolg und den Export in die Welt zum Ziel hatte und damit ein neues Selbstverständnis als Gestalter zu etablieren suchte, glaubte Henry van de Velde an das Selbstverständnis als Künstler, die künstlerische Freiheit und damit die Unabhängigkeit von der Industrie.

Walter Gropius lehnte, wie van de Velde, die industrielle Produktion nicht ab, suchte jedoch wie dieser nach einer Formulierung für das Verhältnis von Kunst und Technik. Er positionierte sich schließlich
mit der Gründung seines Bauhauses und dem Statement „Kunst und Technik – eine neue Einheit“. So ‚neu‘ war diese Verbindung freilich nicht. Die industrielle Herstellung spielte für die Vertreter der neu gegründeten Schule zunächst keine Rolle. Die Tendenz zur Versach- lichung, die Verbindung von Geometrie und Maschinenästhetik hatte nichts mit tatsächlicher industrieller Serienproduktion zu tun.
Vielmehr propagierte das Bauhaus, strebten seine Vertreter nach der Aufhebung der Trennung von Kunst und Handwerk – ein Ziel also, welches sie mit der Arts-and-Craft-Bewegung verband. „Wenn wir eine Flasche entwerfen, sollten wir uns fragen, ob sie funktioniert, ob sie allen Anforderungen an eine Flasche genüge leistet, und ob sie noch besser funktionieren könnte, und zuletzt (…), ob sie schön ist.“

Am Ende machte die Moderne auch vor dem Bauhaus nicht Halt. Mit Hannes Meyer, in den 1920er-Jahren einer der bekanntesten Architekten des Funktionalismus und ab 1928 Direktor des Bauhauses, hielten die Industrialisierung und die serielle Herstellung Einzug, wurde auch hier die Industrie zum Partner. Diese konsequente Zusammenarbeit, die industrielle Herstellung also und der damit veränderte Herstellungsprozess, veränderte die Art der Herangehensweise innerhalb des Gestaltungsprozesses. Ein neuer Berufsstand war entstanden, welcher die Brücke zwischen Historie und Moderne, zwischen Kunst und Handwerk schlug. Das Bauhaus wurde zur „Schule der Gestaltung“, zum Ausbildungsort für Gestalter.

Quelle: „Von Arts and Crafts zum Bauhaus. Kunst und Design – eine neue Einheit!“, Wienand Verlag, Köln 2019